Story #6 - Über Naturwein: Überlegungen
29. Oktober 2025 | Xavier Guichard, Director of Office at Amelie
Naturwein ist wohl das Thema, das die Weinwelt am stärksten polarisiert. So wie man am Esstisch heikle Themen wie Religion und Politik lieber ausspart, um die Gesprächskultur zu wahren, könnte man heute auch „Naturwein“ in diese Kategorie zählen – so groß sind die Gefühle, die er auslöst.
Manche verteidigen Naturwein, seinen Stil und seine Ideale mit Leidenschaft; andere möchten die Wörter „natürlich“ und „Wein“ nie mehr zusammen hören und sehen darin einen Affront gegen guten Geschmack. Unabhängig davon, wo man steht: Die meisten von uns – Profis wie Amateur:innen – wissen nicht genau, was der schillernde Begriff „Naturwein“ eigentlich bedeutet, geschweige denn, was er bedeuten sollte. Seine Anhänger erinnern sich an Flaschen mit purer, vibrierender Frucht, expressiven Aromen und echter Persönlichkeit. Seine Kritiker haben ebenso lebhafte Erinnerungen an brettige, mousy oder sonst wie fehlerhafte Weine.
Unser Ziel ist Aufklärung – und, wenn möglich, auch Korrektur. Eine klare Begriffsklärung ist dafür der erste Schritt. Dieser kurze Beitrag möchte Einsteiger:innen einen Überblick geben und zugleich den kundigsten Leser:innen neue Denkanstöße liefern.

Ist nicht aller Wein „natürlich“?
„Naturwein“ ist ein schwammiger Begriff, der oft mit exotisch duftenden und unkonventionell gefärbten Getränken gleichgesetzt wird. Im Kern lässt er sich jedoch schlicht fassen: Gemeint sind Weine, die in keinem Stadium der Erzeugung mit chemischen Zusatzstoffen behandelt werden.
Manche verstehen das binär – eine Flasche ist „natürlich“ oder nicht. Wir sehen eher eine Skala: am einen Ende stark verarbeitete Weine, die im Weinberg wie im Keller auf chemische Eingriffe setzen; am anderen Ende Weine, die keinerlei Stoffe mit Warnhinweis sehen. Eine allgemein anerkannte Schwelle, ab der „Naturwein“ beginnt oder endet, gibt es jedoch nicht. Weitgehend unstrittig ist: Ein Wein kann als „natürlich“ gelten, wenn im Weinberg nur minimale Chemie zum Einsatz kommt (einige würden sogar Kupfersulfat ausschließen) und im Keller kein Schwefel zugesetzt wird. Genau diese beiden Bereiche verdienen eine nüchterne Betrachtung.
Rebberg Arbeit
In der öffentlichen Debatte dominiert das Thema Schwefel. Dabei verdient die Arbeit im Weinberg – also der Umgang mit Boden, Rebe und Ökosystem – mindestens ebenso viel, wenn nicht mehr Beachtung. Der Grundgedanke ist plausibel: Chemische Mittel zur Krankheitsbekämpfung und Ertragssicherung sind ein vergiftetes Geschenk – sie schwächen Rebe und Boden, gelangen letztlich in den Wein und damit zum Menschen. Wer das vermeiden will, handelt nachvollziehbar. Die entscheidende Frage lautet: Wie lässt sich Krankheiten begegnen, ohne chemische Keule?
Eine der fortschrittlichsten Stimmen der Weinbergökologie ist Hans-Peter Schmidt (Mythopia). Er setzt auf Begrünung, Polykultur, das Pflanzen von Bäumen und Beeren sowie umfassende Förderung der Biodiversität – in einem Ausmaß, das viele Naturwein-Betriebe konservativ erscheinen lässt. Gleichwohl räumt selbst er ein, dass in Regionen wie dem Wallis der Einsatz von Kupfersalzen bisweilen unvermeidlich ist. Biodynamische Pionierinnen wie Lalou Bize-Leroy gehen ähnlich weit, um synthetische Mittel zu vermeiden – bekannt sind etwa Helikopterspritzungen mit organischen Präparaten und sogar „Akupunktur“ auf schwachen Parzellen.
Bemerkenswert ist der Widerspruch innerhalb der Szene: Viele als „konventionell“ etikettierte Erzeuger – etwa Leroy – pflegen vitale, biodiverse Weinberge, gelten aber als konventionell, weil sie bei der Füllung schwefeln. Umgekehrt gibt es Winzer:innen, die im Weinberg großzügig chemisch behandeln, jedoch im Keller auf Schwefel verzichten – und sich dennoch „natürlich“ nennen. Nur eine Minderheit – wie Schmidt – arbeitet im Weinberg ebenso konsequent natürlich wie im Keller. Entsprechend hält er viele sogenannte Naturwinzer für kaum natürlich.
Kurzum: Die Vitikultur ist der am meisten unterschätzte Teil des Naturwein-Diskurses – und stellt die Berechtigung mancher „Natur“-Behauptung grundsätzlich in Frage. Ein Naturwein beginnt im Weinberg; und in der Praxis sind es nicht selten „konventionelle“ Betriebe, die hier mehr leisten als so mancher Naturwein-Pionier.
Das S-Wort: Schwefel
Weil die Arbeit im Weinberg von Konsument:innen selten gesehen wird, gilt in der öffentlichen Wahrnehmung der Einsatz oder Verzicht von Schwefel (SO₂) in der Vinifikation als entscheidendes Merkmal. Konventionell wird Schwefel an mehreren Punkten eingesetzt, um schädliche Mikroorganismen zu hemmen, den Wein zu stabilisieren und seine Haltbarkeit nach dem Verlassen des Guts zu sichern.
Zwar entsteht bei der Gärung in geringen Mengen von Natur aus Schwefel, doch die meisten Winzer:innen nutzen zusätzliches SO₂, um durch Oxidation oder ungewollte Keime verursachte Fehler zu verhindern, damit der Wein reisen und reifen kann. Andere lehnen Schwefel strikt ab: Er töte das „Leben“ des Weins und führe zur Nivellierung dessen, was nie uniform sein sollte. Fehler ließen sich, so das Argument, anders vermeiden, und kleine Unzulänglichkeiten seien einem „toten Wein“ vorzuziehen. Beide Sichtweisen haben Substanz. Zwischen ihnen liegt ein breites Feld: von homöopathischen Dosierungen bis zu völligem Verzicht.
Genau hier verläuft der große philosophische Graben, den niemand endgültig überbrückt hat. Unterm Strich zeigt sich ein doppeltes Paradox: Ideale überholen die Umsetzung. Der Weinberg – Wiege der Authentizität – wird zugunsten von Kellerdogmen zu oft vernachlässigt; und Schwefel wird zum bequemen Marker für Tugend oder Laster. Zwischen ökologischer Integrität und önologischer Reinheit halten nur wenige beides gleichzeitig konsequent hoch. So stellt sich die Frage, ob „natürlich“ als Unterscheidung überhaupt hilfreich ist – oder ob nicht am Ende allein der Wein selbst den Wahrheitsbeweis erbringt.
Sein oder Nichtsein (natürlich)
Wie also ordnet man Naturwein im eigenen Vokabular ein? Wie bewertet man eine ebenso zersplitterte wie uneinheitliche Welt, ohne sie pauschal zu befürworten oder zu verwerfen?
Für uns hängt die Antwort davon ab, wozu Wein dienen soll. Wein soll Freude bereiten und zugleich eine klare Identität tragen. Beides gehört zusammen: Ein Wein, der vor Charakter und Individualität „singt“, belohnt jene, die in der Weinerfahrung Tiefe und Wahrhaftigkeit suchen.
Viele Naturwein-Argumente berufen sich auf Terroir-Ausdruck – liefern aber Weine, die so ungeschliffen, fehlerhaft und unfertig sind, dass sie jede Individualität vermissen lassen und einander am Ende ähneln. Andere wiederum leben ihre Prinzipien im Weinberg, umgehen im Keller den Schwefel, ohne Fehler zu riskieren, und erzeugen ätherische Weine von großer Transparenz und Herkunftstreue. Es führen also viele Wege zu jenem Ziel, an dem ein beseelter, aufrichtiger Wein klar von seinem Ursprung und seinen Macher:innen erzählt.
Die Wahrheit im Glas ist das einzige belastbare Maß für den Erfolg einer Winzerin oder eines Winzers – ob „konventionell“ oder „natürlich“. Am Ende muss der Wein selbst für seine Entstehung sprechen.