Story #7 - Grosser Weisswein: Riesling vs Chardonnay
29. November, 2025 | Alexander Mackh, Co-Founder
Burgund hat mir früh etwas Wichtiges beigebracht: Sobald man genauer hinschaut, ist im Wein nichts Zufall. Boden, Hanglage, Klima, die Form des Fasses, der Moment der Lese – alles spielt zusammen. Man kann versuchen, das mit Zahlen und Klassifikationen zu erklären, aber am Ende ist die Wirkung eine sinnliche. Entscheidend ist das, was im Gedächtnis bleibt, wenn die Flasche leer ist.
Chardonnay ist dafür das beste Beispiel. Es ist die weltweit am häufigsten angepflanzte weisse Traubensorte – und das aus gutem Grund. Sie kann als straffer, salziger Wein aus einer kühlen Küstenlage daherkommen, als nussiger, vielschichtiger Meursault, der zehn Jahre Ruhe braucht, oder als etwas zu üppiger, holzbetonter Wein aus wärmeren Gebieten. Die meisten Menschen, auch jene, die von sich sagen, sie „kennen sich nicht so aus“, haben irgendwann eine gute Erfahrung mit Chardonnay gemacht. Das prägt. Wenn das durchschnittliche Niveau einer Sorte weltweit solide ist, entsteht so etwas wie Grundvertrauen: Man sieht Chardonnay auf der Karte und fühlt sich recht sicher. An der Spitze dieser Pyramide wird aus Vertrauen Begehrlichkeit. Man denkt an die Côte de Beaune, an Puligny-Montrachet, Meursault, Chassagne-Montrachet oder die Grand Crus von Chablis. Das sind nicht einfach Weine, sondern Referenzen dafür, was Weisswein sein kann. Es ist kein Zufall, dass einige der teuersten Weissweine der Welt von ein paar wenigen Kalkhängen in Burgund stammen, die auf der Landkarte fast unscheinbar wirken.
Die Kultur und Struktur rund um Chardonnay verstärken diesen Effekt. Burgund arbeitet mit einem Klassifikationssystem, das über mehr als hundert Jahre geschärft worden ist: regionale Weine, Dorfweine, Premier Cru, Grand Cru. Eine Flasche „Bourgogne Blanc“ verspricht automatisch etwas anderes als eine Flasche mit der Aufschrift „Chevalier-Montrachet Grand Cru“. Und dieses System, so kompliziert es manchmal erscheint, hält dieses Versprechen im Grossen und Ganzen ein. Spannend ist: Flächenmässig macht Burgund nur einen kleinen Teil der französischen Weinberge aus – sein Einfluss darauf, wie wir über Terroir und Hierarchien sprechen, ist aber riesig. Für viele ist es der Massstab, bewusst oder unbewusst, wenn es um „ernsthaften“ Wein geht.

Die Geschichte von Riesling, vor allem in Deutschland, ist komplizierter. Riesling nimmt etwa einen Viertel der Rebfläche ein, und trotzdem haben deutlich weniger Menschen grossen Riesling im Glas gehabt als grossen Chardonnay. Das hat mehrere Gründe. In den 1980er-Jahren haben Skandale um Zusätze und künstlich wirkende Süsse das Vertrauen in deutschsprachige Weissweine massiv beschädigt. Gleichzeitig ist die Stilistik vielfältiger und damit schwerer einzuordnen. Riesling kann knochentrocken sein, feinherb, also leicht restsüss, oder klar süss – und das Etikett sagt einem nicht immer auf den ersten Blick, in welche Richtung es geht. Wer im Restaurant Chardonnay bestellt, macht sich vielleicht Gedanken über Holz, aber selten darüber, ob der Wein trocken ist. Beim Riesling stellen sich viele diese Frage noch immer.
Die deutschen Klassifikationen helfen zu Beginn nicht unbedingt. Auf der einen Seite steht eine Art „burgundische“ Herkunftsordnung: Gutswein, Ortswein, danach Erste Lage und Grosse Lage für die besten Rebparzellen. Aus Grossen Lagen können Winzer Grosses Gewächs – das bekannte „GG“ – erzeugen: trockene Weine aus klassifizierten Spitzenlagen mit strengen Vorgaben. Parallel dazu läuft das traditionelle Reife-System: Kabinett, Spätlese, Auslese und so weiter. Diese Begriffe beziehen sich auf den Zuckergehalt der Trauben bei der Lese, nicht auf die Süsse im fertigen Wein. Spätlese – wörtlich „späte Lese“ – kann trocken, feinherb oder süss ausgebaut werden. Sie sagt etwas darüber, wie reif die Trauben waren, nicht, wie viel Zucker im Glas bleibt. Aus rechtlicher und technischer Sicht ist das alles logisch. Aus Sicht der Konsumentinnen und Konsumenten ist es eher ein Dschungel.
Genau hier machen einzelne Produzenten den entscheidenden Unterschied. Im Saargebiet habe ich meinen persönlichen Zugang zu Riesling über die Weine von Peter Lauer gefunden. Die Saar ist ein kühler, steiler Nebenfluss der Mosel, mit Hängen, die eher an Kletterwände als an Landwirtschaft erinnern. Teilweise liegen die Steillagen bei über 60 Prozent Neigung – das gehört zu den steilsten Weinbergen der Welt. Hier geht alles von Hand. Die Böden sind von Schiefer geprägt, der Wärme speichert, sie an die Reben zurückgibt und gleichzeitig diese rauchige, steinig-salzige Signatur in den Wein bringt. Es ist eine Region, in der Riesling keinen leichten Alltag hat – genau deshalb können die Weine so faszinierend sein.
Was mich bei Peter Lauer beeindruckt hat, war nicht nur das, was im Glas passiert, sondern auch die Klarheit im System dahinter. Wenn er ein GG füllt, weiss ich: Der Wein ist trocken, stammt aus einer Grossen Lage und ist mit grossem Anspruch gemacht. Bei seinen anderen Weinen – egal ob Ortswein, Erste Lage oder Grosse Lage – ergänzt er eine kleine, aber entscheidende Information: einen Buchstaben, der den Stil bezeichnet. „T“ steht für Trocken. „F“ steht für Feinherb, also leicht restsüss. Es klingt banal, aber dieses Detail macht ein doppelt aufgebautes System plötzlich lesbar. Der Lagenname sagt mir, woher der Wein kommt; der Buchstabe sagt mir, wie er sich anfühlen wird. Je mehr Jahrgänge ich probiere, desto mehr schätze ich, wie konsequent dieses Versprechen eingelöst wird. Für mich gehören diese Flaschen zu den vollständigsten Riesling-Erfahrungen, die ich je gemacht habe – trocken wie feinherb.
Bleibt die Frage: Warum all dieser Aufwand? Warum einzelne Rebparzellen klassifizieren, jahrzehntelang darüber streiten, was eine Grand Cru oder Grosse Lage verdient, die Arbeit im Keller so fein abstimmen, damit sie zu diesen Erwartungen passt – und sich damit das Leben eher schwerer machen? Weil es hilft, wenn ein emotionales Erlebnis einen rationalen Rahmen hat. Säure, pH-Wert, Alkohol, Reifegrad, Bodentypen, Fassausbau, Klassifikation – all das sind Versuche, Struktur in etwas zu bringen, das schlussendlich mit den Sinnen aufgenommen wird. Ein grosser Weisswein ist nicht einfach eine Flüssigkeit mit „schönen“ Analysenwerten. Er ist Tiefe und Komplexität, Spannung und Balance – aber auch Begehrlichkeit, Geschichte und Erinnerung.
Man kann argumentieren, dass Chardonnay von allem ein wenig mehr mitbringt: mehr Historie im Spitzen- und Luxussegment, klarere Kommunikation, mehr kollektive Erinnerungen an legendäre Flaschen. Meine Zeit mit Riesling, vor allem an der Saar, hat mich jedoch überzeugt, dass Grösse nicht an eine Sorte oder eine Region gebunden ist. Sie kann in Form eines trockenen, fein gemeisselten Chardonnay von einem Kalkhang in Burgund auftreten – oder als feinherber, schiefergeprägter Riesling von einem schwindelerregend steilen Weinberg über der Saar. Die Trauben sind andere, die Traditionen sind andere, die Etikettenlogik ist manchmal schmerzhaft verschieden. Was sie im Idealfall verbindet, ist der Moment, in dem man das Glas leert und sich gleichzeitig dabei ertappt, schon an die nächste Gelegenheit zu denken, diesen Wein wieder zu trinken. Das ist für mich die eigentliche Definition von grossem Weisswein.